Die Übertretung

Als ich ein Kind war spielte ich Tag für Tag mit den Kameraden vor der Tür. Mama hatte mir gesagt, was noch vor der Tür lag und was jenseits von ihr.

Die Grenze gen Osten war abgesteckt durch eine breite Straße, die war zu gefährlich, die war nicht zu queren. Ein aufgestelltes Kreuz am Straßenrand gemahnte daran. Die Weizen- und die Sonnenblumenfelder dahinter kannte ich nur von den Fahrten mit den Eltern über Land. Von diesseits der Straße waren sie nicht einsehbar; von da, auf Höhe unserer Grundschule Am Haferfeld – das Feld war längst weg – fiel der Blick die Rodenseel herüber zu der verbotenen Seite auf ein Hochhaus.

In dem Hochhaus wohnte der Armin Linde, ein Klassenkamerad. Der war selber für sein Alter hochgewachsen, trug dunkle, schwarze Locken über einer hohen Stirn. Mit seiner näselnden Stimme wusste er von geheimnisvollen Dingen zu sprechen, Angst machend und verlockend. Seine Mutter ging über den Tag arbeiten, die Art, wie er von Vadder sprach war frei von Ehrfurcht.

Armin fiel leicht mich zu überreden, ihn einmal, als die Schule früher als vorgesehen aus war nach Hause zu begleiten. Er hatte einen eigenen Wohnungsschlüssel, hingegen ich schon so manche verzweifelte Zeit vor der Tür verbracht hatte, wenn meine Mutter nicht rechtzeitig von einem Einkauf zurück gekommen war. Armin hatte auch ein eigenes Zimmer und keine Brüder. In seinem Reich angekommen offenbarte Linde mir, die Petra Skreba habe ihm anvertraut, sie wolle mich küssen, auf dem Schulhof, hinter den Aschentonnen, damit niemand es sehe.

Ich war kein Hindernis auf dem Weg, bei den Aschentonnen fand ich mich ein. Eine klare Erinnerung daran, ob ich einen Kuss gab oder empfing habe ich nicht mehr. Der Armin Linde hielt jedenfalls Wache vor den Aschentonnen und selbstverständlich hatte er sich auch schon hinter den Tonnen mit Mädchen vergnügt. Petras Wunsch mich zu küssen wird aus Bewunderung erwachsen sein, denn sie hatte eine Leseschwäche und ich den Lesewettbewerb in der Klasse gewonnen. Mir erging es nämlich mit der Beate Böhler, unserer Klassenbesten, ähnlich, nur dass ich nicht wagte, auch nicht über den Linde, die Böhler zum Stelldichein zu bitten.

Jüngst in einem Traum öffnete ich mit zitternden Händen in einem großen Gebäude ein kleines Fenster auf der Flucht vor einer Gestalt, die mich abknallen wollte. Ich entwich, lief weg und bemerkte vor dem Erwachen, dass ich mich wiederum innerhalb der vorgegebenen Grenzen meiner Kindheit befand, in Richtung auf den Schulhof unterwegs. Offenbar holte ich mir die Erinnerung an die Jahrzehnte alte Übertretung wieder. Heute danke ich dem Mädchen mit der Leseschwäche für ihren gezeigten Mut und für ihre in der Anbahnung entblößte Scheu und Angst, denn Mut und Angst sind Zwillinge, unzertrennlich und im Gleichmaß wachsend. Alles Wesentliche, das geschieht, geschieht durch Überwindung.

A.R.