Akzidentiell und aus Versehen sei geschehen, was jüngst geschah: Ein Sänger erhielt für seine „lyrics“ den nobelsten aller Preise, den Literaturnobelpreis. Eine auf dem europäischen Festland eingerissene Sprachnachlässigkeit habe das verursacht, so wurden wir belehrt. Der angloamerikanische Sprachraum beherberge noch den Unterschied zwischen „lyrics“ und Poetry. Das eine sei das in Begleitung einer Klampfe (grch.: Lyra) Getextete, nur das andere sei Dichtung und preiswürdig.
Andere wiederum hoben hervor, daß der Barde, dem der Preis des Schwedischen Komitees nun, unter größten Mühen ihn an den Mann zu bringen, verliehen worden sei, doch immerhin zuvor schon als Bob Dylan weithin bekannt gewesen sei, was dem Renommee der Auszeichnung nicht schaden könne. Für in moderne Poesie Eingeweihte war dieser Hinweis auf die Popularität des „song- and danceman“ (Dylan über Dylan) allerdings keine Empfehlung. Denn für den wahren Poeten liegt ein gewisser Ruhm darin nicht verstanden zu werden (Baudelaire), was Dylan heutzutage nicht einmal mehr akustisch einlöst, da er sich angewöhnt hat verständlich und mit beinah angenehmer Stimme zu singen.
Bei der Preisverleihung dann, der er sich in Person entzogen hatte, ließ Dylan verlesen, daß er, darin Shakespeare gleich, als Produzent von Texten gar keine Zeit habe Gedanken auf die Frage zu verwenden, ob das, was er tue, hohe Kunst sei oder nicht. Nun, seit Shakespeare ist eine Menge Tinte auf Papier geflossen. Mitte des 19ten Jahrhunderts wurde die Epoche der modernen Lyrik eingeläutet. Ein wesentliches Kennzeichen moderner Lyrik ist aber die zu Papier gebrachte Reflektion des Dichters in Bezug auf sein eigenes Erschaffen zwecks Entwicklung einer von der Tradition abgesetzten Programmatik wenn nicht Dogmatik. Dylan, der sich anfangs auf einen der bedeutendsten Begründer der Moderne, Arthur Rimbaud, berief, ist das sehr wohl bekannt.
Das schnöselige Bekenntnis zur eigenen Unbekümmertheit verbunden mit der beharrlichen Weigerung eine Nobelpreisrede – etwa über Literatur? – zu halten bedeutet daher mehr als eine weitere Marotte eines ziemlich alten Mannes, der dazu übergegangen ist statt eigener Lieder die Stücke seiner abgelebten Vorgänger einzuspielen. Es ist zu verstehen als weiteres Symptom einer Abkehr von der Moderne überhaupt.
Dylan in der Postmoderne zu verorten geht ebenfalls nicht. Der Wahl der Quellen, aus denen Dylans Texte schöpfen, liegt kein Eklektizismus zu Grunde, wie Detering jüngst aufgezeigt hat. Das fundamental Fremdartige gegenüber dem, was seit Mitte des 19ten Jahrhunderts den Anspruch erhebt oder dem zugebillgt wird zeitgenössische Lyrik von Rang zu sein, ist, daß Dylans Liedtexte zwar mitunter komplexe, aber verstehbare Geschichten aus nicht selten lediglich einer einzigen, wenn auch meist gebrochenen Perspektive erzählen. Nicht einmal die Erzählungen selbst würde Dylan als modern bezeichnen, viel eher darauf verweisen, daß die Geschichten, die Menschen zustoßen, sich seit den Zeiten des Alten Testaments nicht großartig verändert haben.
Moderne Lyrik erzählt uns nichts. Ihre Verse werden nur durch die Form, bei der durchaus Strenge obwaltet, zusammengehalten. Ihre Gegenstände sind willkürlich gewählt, die gewählten Objekte durcheinander geschüttelt. Über die Auswahl der Worte entscheidet ihr Klang, kaum noch ihr Sinn. Durch Sprache erzeugt werden soll das Irreale, Akausale. Das Gedicht entzückt seinen Schöpfer und seine wenigen, auserwählten Leser, indem durch der Laute Klang das notwendige Medium Sprache der Wirklichkeit entrückt und eine Transzendenz auftut, die als längst verloren geglaubt wird. In der konkreten Poesie wird auch diese ins Nichts hinaus greifende Perspektive der Poesie zugunsten reiner Sprachspielereien aufgegeben. Ebenso berichtet die Postmoderne vom Ende der großen Erzählungen und sinnstiftenden Mythen (Lyotard), wie sie beispielsweise im Alten Testament bewahrt sind.
Es hilft nicht zu leugnen: Das Unbehagen der Kritiker, die die Höhe der Zeit nicht nur kennen, auch bestimmen, an dem jüngsten Literaturnobelpreisträger kommt nicht von ungefähr. Was Dylan schreibt und wie er schreibt muß ihnen rückwärts gewandt erscheinen. Das fängt bei der Ornamentierung an. Der Reim ist das Ornament der Lyrik. Seit Adolf Loos’ Aufsatz sind aber Ornament und Verbrechen (1908) in der modernen Kunst Synonyme. Dylans Songs sind fast alle in Reimen verfasst. Entgegen kommender Weise ließ er zu den Feierlichkeiten sein Untergangsepos „A hard rain’s a-gonna-fall“ (1962) vortragen. Es ist relativ modern: Voller eindringlicher Bilder, die, nach Art der Moderne, abgesehen von der letzten Strophe appelativen Charakters in der Reihenfolge ihres Erscheinens austauschbar sind. Unzusammenhängend. Bis auf die zwei den Refrain bildenden, den Erzähler um seinen Bericht bittenden Verse: Ungereimt! Da sage einer, der Mann habe im Zuge der Preisverleihung kein Taktgefühl gezeigt.
So aber geht der Appell des Erzählers, der er selbst ist:
And I’ll tell it and think it and speak it and breathe it
And reflect it from the mountain so all souls can see it
Then I’ll stand on the ocean until I start sinkin’
But I’ll know my song well before I start singin’.
Hier tritt der Reim in seiner für die Nachkriegsdichtung goutierten Form auf, nämlich als Assonanz. Als wer aber tritt der Sänger auf? Als wissender Erzähler, als Prophet, als Untergeher.
Was daran ist modern? Bestenfalls der Untergang.
Kurzum: Mit Dylan fiel die Wahl der Jury nicht gerade auf le derniere crie der Poesie. Manche unterstellen den Juroren dabei eine Verklärung ihrer eigenen 68-er-Jugend, für die Dylan damals Ikone war. Die offizielle Begründung Dylan für „neuere poetische Ausdrucksformen in der amerikanischen Song-Tradition“ zu ehren weist in eine andere und wie ich finde ernst zu nehmende Richtung. Es geht um ein zeitgemäßen Weiterschreiben an der Überlieferung der Vorfahren.
Für eine abschließende Bewertung, ob die Wahl der Akademie ein Fehlgriff oder ein Vorausgriff war dürfte es noch zu früh sein. Wer Literaturgeschichte in Epochen denkt, wird bei seinem Urteil das Folgende zu bedenken haben. Das Aufscheinen der modernen Poesie wird auf dem Hintergrund der industriellen Revolution gesehen und gedeutet. Die damit einhergehende Mechanisierung, die Verstädterung, Entfremdung und Verdinglichung des Menschen zeitigt auf die Lyrik eine dialektische Wirkung. Sie findet einerseits affírmativen und nachahmenden Eingang in ihre Struktur, andererseits gibt sie den Impuls Sprache als von der Realität losgelösten eigenen Kosmos zu ergreifen.
Das industrielle Zeitalter jedoch ist vorbei. Wir befinden uns im Zeitalter der Mondialisierung. Und die letzte Bastion des Lokalen ist die Sprache in ihrer regionalen Vielfalt und Einfalt.
Wiederum lassen sich dialektische Bewegungen ausmachen.
Modern geworden ist einerseits der Rückzug der Literatur, ihre Sammlung und Konzentration auf die Tradition und nicht auf das nächste tolle Experiment. Sprache muß sich abschotten gegen den Zugriff der Globalisierer und Nivellierer. Keine Sprache so sehr wie die angloamerikanische, die sich als globale Gebrauchssprache der Welt bemächtigt und sich damit zugleich selbst permanent downgradet. Dylan repräsentiert den Bezug zu dem, was durch alle Wechsel der Zeiten hindurch Literatur Geltung und Gültigkeit verschafft hat. In seiner letztlich doch von ihm zu Pfingsten übermittelten Nobelpreisrede greift er sich einfach drei Bücher aus dem großen Kanon heraus, erzählt sie neu, indem er in die Wiedererzählung die Wirkung auf ihn einflicht. Als Quellen für die eigene Inspiration fließen Homer, Melville und Remarque, Altertum, viktorianische Blütezeit der Literatur und Neue Sachlichkeit in eins. Das Bekenntnis zu oder die Abwendung von einer literarischen Epoche hat ausgedient, es geht ums Ganze.
Andererseits sind dem Poeten alle Quellen verfügbar geworden, Literatur aus allen Kontinenten, leichter denn je zugänglich. Die Kolonialisierer brauchen nicht mehr wie einst Rimbaud zu verreisen, um das Fremde zu entdecken. Die fremde Welt strömt ins Viertel nebenan, die Welle schwappt zurück. Der Einfluß, dem jedermann, in besonderer Weise der sich durchlässig haltende Dichter, ausgesetzt ist, dem er unterliegt oder den er schöpferisch wendet, ist heute zeit- und raumumspannnend, eben global.
Ja, und eines Tages vielleicht, werden die Dichter dieser Welt je in ihrer eigenen Sprache sprechend es den Leuten, den Arabern, Chinesen, Slawen und Germanen, so erzählen, daß die es in je ihrer eigenen Sprache hören werden. Ein gerüttelt Maß an Versen, in Reimen gereimt. Und kein Fels der Welt muß noch so tumb sein es den Leuten zu erklären, was vor sich geht. Prost.
A.R.
Verwendete Quellen:
Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1956 (2011)
Walter Höllerer, Theorie der modernen Lyrik, Dokumente zur Poetik, München 2003
Heinrich Detering, Die Stimmen aus der Unterwelt, Bob Dylans Mysterienspiele, 2016