Oktober zwoundzwanzig, Tag drei, Wir futtern mal wieder den Einheitsbrei. Zwischen hier und drüben Wird nicht unterschieden. Wer stand auf der falschen Seite? Nein, niemand hat gestanden. Die kleinen Fische, die Granden, Vereint in Furcht vor Pleite, Die dürfen sich heut anstellen Am lauwarmen Buffet der Intellektuellen: Die brutzeln aus Scheiße Frikadellen. Doch ich bin heut in Biermannlaune. Ich mein den Wolf, den bösen. Ich brech heut was vom Zaune, Ich will die Schäflein vom Fleisch erlösen. Mit dem Karolinchen fang ich an, Ihr gebührt der erste Rang. Die hat sich nie zu mir bekannt Und wirds auch niemals tun. Die bleibt hübsch in ihren Kinderschuhn, So zierlich - und ehrlich: Das macht sie mir ja so begehrlich. Eher würd sich ne verschmähte Henne Noch zu mir bekennen. Doch sachte: sie kann rennen. Ja so was macht die Biermannlaune. Ich mein den Wolf, den bösen. Der schmeckte heut Alraune Und wildert in den Diözesen. Mit der Kupferdreher fang ich an. Der Pfaff hier hat sich Gott sei Dank Nie zu meiner Ketzerei bekannt Und wirds auch nie bereun: Der bleibt seiner Kirche treu. Der mag lieber Kreide fressen Und liest auch in Paris die Messen. Bei den Pfründen würd er bleiben, Christus abschreiben. Ergo darf ich ihn mir einverleiben. Das hebt sehr meine Biermannlaune. Ihr wisst: Vom Wolf, dem bösen. Der feiert mit den Faunen Und trinkt sich auserlesen, Auserlesen fürs Verflucht! Verflucht! Was soll der arme Teufel tun, Wenn sein böser Geist ihn heimsucht? Er ist ja schon verrucht. Der Wolf ist ein Skorpion, Nichts und niemand wird verschont, Eingeschlossen die eigene Person. Wer wird den Wolf, erwischt beim Dösen, Von seiner Last erlösen? Wieviel Wackerstein Geht noch in ihn hinein? Wie kann sein Magen an solchen Tagen Das Ungeheuerliche ertragen? Man höre und man staune: Sein Magensaft ist Biermannlaune. A.R. 3.10.22
Hangover Hannover
Morgens, früh um 10 Kam ich mit der Bahn In Hannover zum Stehn. Am Amtsgericht, Ernst-August-Platz, Genauer: Am Treppenabsatz, Hab ich bißchen Zeit vertan. Kippe, Dose Bier, Wie so'n Vagabund, Für Hannover keine Zier, Besah ich eine Tafel mir: Es gibt kein Sondergericht mehr hier, Bitten um Entschuldigung. (Für ehedem - da macht ichs mir bequem) Ich fands amüsant. Hier gabs viel Verkehr Von Parteien und Amt. Die Einen schauten verloren, Die Andern zum Dienst geboren, Lauferei, hin und her. Dann zog ne Frau vorüber, die schob Nen Einkaufswagen vor sich her. Den hatte sie mit Blumen verziert, Weil sie sich, so dachte ich, Fürs Flaschensammeln geniert. Da mocht ich weitere Betrachtungen nicht mehr. Mittags, gegen 2 Mußt es auf retour Wiederum Hannover sein. Café Bredero, Treppenfuß, Verging mir sogleich die Lust Bei dem Anblick einer Hur. Sie war schmerzhaft jung. Mitleid warf mein Blick In ihre Einladung, Die ich aus der Mimik las, Bevor sie geschäftig hinter Glas Ging, und sie kam zurück - Mit ner Art von Alibi Bürgerlichen Seins Sagt sie, sie sei nicht von hie, Sie sucht ne Stelle inner Kanzlei, Ob ich wohl wüßt wo eine sei. Von den Worten glaubt ich keins. Als sie mich so sieht, Grausam unbeirrt, Staun ich doch, wie mir geschieht. Sie sagt, dass ich ein Penner bin Und Fick doch die Frau Mutterin! Nach Ficken steht mir nicht der Sinn Sagt ich darauf leicht verwirrt. Nun geb ich ihr und mir zum Trost Dies Brevier in ihren Schoß, Nachdem ich diese Stadt verließ, Die ihre schönsten Briefe Von jeher gar nie liest. A.R. 28.9.22
Geburtsfehler
Ich wurd am falschen Ort geboren, Im wiederaufgestellten Westen. Die Eltern hatten im gefallenen Osten Ihren Kompass verloren. Mein Vadder wollt' an nix mehr glauben, Er hatte der Wehrmacht gedient. Der Mutter sollt' ich lange frommen Mit ihrem Keuschheitsspleen. Ich mümmelte Jahrzehnte An meiner guten Erziehung. Ich bracht' sie einfach nicht heraus - Und sie mich auch. Ich hatte zwei falsche Brüder, Die wenigstens mal sagten, Dass ich ihnen gar nicht ähnlich wär. Das fest zu halten war ihnen wichtig - Wie auch umgekehrt. Ich bin zur falschen Zeit geboren, Da machte Biermann längst Theater Im andern Staat, wo's echt gefährlich war. Wenn ich mal rebellierte, War ich kurz mal Star, mal Narr, In jedem Fall egal. Ich hab zur falschen Zeit gelitten, Da hatte ich was ich begehrte, Was ich nicht kapierte. Wir Zwei sind herrlich auf und ab geritten, Trotzdem ich mich nach mehr, In Wahrheit aber weniger Verzehrte. Ja, Ihr Lieben, ich war wohl gelitten, Ich war gut umsorgt - Und hätt' so gerne mehr von dem gekriegt, Was einen Menschen So gründlich verkorkst. A.R. 12.09.22
Die Zeiten die sind sich am Ändern
Kommt her mal Leute Wo immer Ihr stromt Und gebt zu dass die Flut Euch näher kommt Und murrt nicht Euer Anzug Bleibt nicht verschont Da gilts keine Zeit drauf verwenden Wer jetzt nicht loslegt und schwimmt Der versinkt prompt Denn die Zeiten die sind sich am Ändern. Kommt Stückeschreiber Die mit nem Stift prophezein Reißt mal die Augen auf Einmalige Gelegenheit Plappert nicht gleich los Gebt dem Rad zum Drehn Zeit Wens erkiest weiß nicht Wahrsagerei Gewinner sind Verlierer von einst Denn die Zeiten die sind sich am Ändern. Kommt Bonzen, Genossen Hört aufs Geläut Steht nicht rum im Foyer Den Eingang den räumt Wens trifft das ist der Sich nicht zeitig zerstreut Krieg tobt im Bund, in Ländern Es gibt Fensterstürze Umsturz dräut Denn die Zeiten die sind sich am Ändern. Kommt Mütter und Väter Quer durch das Land Lasst das Mäkeln Es fehlt Euch an Verstand Die Söhne, die Töchter, Gebt sie aus der Hand Eu’r Pfad ist nur zum Schlendern Die neuen Straßen sind aus Diamant Denn die Zeiten die sind sich am Ändern. Der Fluch ist geschleudert Das Buch gebunden Der Lahme wird den Renner überrunden Der Zeitgenosse ist schon Bald verschwunden Da sind neue Zeitenwender Das Verlorene wird endlich gefunden Denn die Zeiten die sind sich am Ändern. A.R.
Gedanken, die hinterrücks verwunden
Mein Vater, jung und blond, War einfacher Soldat Im Zweiten Großen Krieg, Der stattgefunden hat. Er ließ ein Auge an der Front, Dann lief er weg Hinein in einen Steckschuss Für sein Schulterblatt. Den Rest vom Dreck Verbrachte er im Lazarett. Sein Sohn, schon recht betagt, Verfehlte seine Zeit, Verschlief die Pandemie In purer Müßigkeit, Zu alt, um alarmiert zu sein Von dem Geschrei, Fürs 'Ungeimpft' gabs Platzverweis Und Gängelei: Die Pandemie Lässt sieche Leute nurmehr siech. A.R. 10.6.22