Die mit der Zeit gehn

 
  
 Wenns mal wieder eng wird,
 Weil Du sperrig bist,
 Dich nicht zugesellst,
 Die Spur nicht hältst,
 Wird’s Zeit sich umzudrehn:
 Sieh in die Vergangenheit.
 Dort wirst Du sehn:
 Die mit der Zeit gehn
 Die gehn auch mit der Zeit.
  
 Sag den Leuten nie,
 Wenn Du am Ende bist.
 Denn jeder Hansel hat
 Nen klugen Rat für Dich parat.
 Die wissen gut Bescheid
 Bei Rezepten für die Gegenwart
 Und wollen nicht verstehn:
 Die mit der Zeit gehn
 Die gehn auch mit der Zeit.
  
 Vom Ende der Sinn
 Ist stets ein Neubeginn.
 Nur wer rücksichtslos
 Nach vorne lebt,
 Kann rückwärts sich verstehn.
 Die Welt vergeht
 Und muss vergehn,
 Denn sie ist vermaledeit
 Wie die mit der Zeit gehn
 Vergehn auch mit der Zeit.
   
  
  
 A.R.
 19.02.23 

Kunstfrei

(ein deutscher Sonderweg)

Seht doch auf der Bühne geht das Licht aus
Der blaue Mond allein wirft einen Schein
Wortlos haut der Dichter ein Gedicht raus
So muss Lyrik nach Ausschwitz sein:
Im Freilufttheater fällt der Groschen.
Das Deutsche nahm der Hölle ein Suffix
Hinterließ der Welt ein schwarzes Stoppelfeld
Lange hieß es: Da war doch nix –
Doch. Der Wiener sagt: O ja
Heute ist was war längst abgedroschen
Ja oder was fällt Dir denn noch
Zum <Klang der Stille> ein?
Tonlos auch die Akkorde auf der Leier
Der Komponist nahm sein eingestrichnes Ich
Einzelnt aus-ein-ander auweia
Selbst die Zensur klappt ohne Noten nicht
Im Freilufttheater für fünf Groschen.
Dokfuffzehn räumt den Platz mit Gründlichkeit
Für das Kollektiv Presence des femmes
Irgendwann dann kommt die Polizei
Ooh ja die Zeit bleibt bleiern
Auf deren Bild wird eingedroschen
Das Werk geht schleunigst in Gewahrsam
Zack ab in Staates Sicherheit.
A.R. 20. Dezember 22

In Biermannlaune

Oktober zwoundzwanzig, Tag drei,
Wir futtern mal wieder den Einheitsbrei.
Zwischen hier und drüben
Wird nicht unterschieden.
Wer stand auf der falschen Seite?
Nein, niemand hat gestanden.
Die kleinen Fische, die Granden,
Vereint in Furcht vor Pleite,
Die dürfen sich heut anstellen
Am lauwarmen Buffet der Intellektuellen:
Die brutzeln aus Scheiße Frikadellen.

Doch ich bin heut in Biermannlaune.
Ich mein den Wolf, den bösen.
Ich brech heut was vom Zaune,
Ich will die Schäflein vom Fleisch erlösen.

Mit dem Karolinchen fang ich an,
Ihr gebührt der erste Rang.
Die hat sich nie zu mir bekannt
Und wirds auch niemals tun.
Die bleibt hübsch in ihren Kinderschuhn,
So zierlich - und ehrlich:
Das macht sie mir ja so begehrlich.
Eher würd sich ne verschmähte Henne
Noch zu mir bekennen.
Doch sachte: sie kann rennen.

Ja so was macht die Biermannlaune.
Ich mein den Wolf, den bösen.
Der schmeckte heut Alraune
Und wildert in den Diözesen.

Mit der Kupferdreher fang ich an.
Der Pfaff hier hat sich Gott sei Dank
Nie zu meiner Ketzerei bekannt
Und wirds auch nie bereun:
Der bleibt seiner Kirche treu.
Der mag lieber Kreide fressen
Und liest auch in Paris die Messen.
Bei den Pfründen würd er bleiben,
Christus abschreiben.
Ergo darf ich ihn mir einverleiben.

Das hebt sehr meine Biermannlaune.
Ihr wisst: Vom Wolf, dem bösen.
Der feiert mit den Faunen
Und trinkt sich auserlesen,

Auserlesen fürs Verflucht! Verflucht!
Was soll der arme Teufel tun,
Wenn sein böser Geist ihn heimsucht?
Er ist ja schon verrucht.
Der Wolf ist ein Skorpion,
Nichts und niemand wird verschont,
Eingeschlossen die eigene Person.

Wer wird den Wolf, erwischt beim Dösen,
Von seiner Last erlösen?
Wieviel Wackerstein
Geht noch in ihn hinein?
Wie kann sein Magen an solchen Tagen
Das Ungeheuerliche ertragen?
Man höre und man staune:
Sein Magensaft ist Biermannlaune.

A.R.
3.10.22

Hangover Hannover

Morgens, früh um 10
Kam ich mit der Bahn
In Hannover zum Stehn.
Am Amtsgericht, Ernst-August-Platz,
Genauer: Am Treppenabsatz,
Hab ich bißchen Zeit vertan.

Kippe, Dose Bier,
Wie so'n Vagabund,
Für Hannover keine Zier,
Besah ich eine Tafel mir:
Es gibt kein Sondergericht mehr hier,
Bitten um Entschuldigung.
(Für ehedem - da macht ichs mir bequem)

Ich fands amüsant.
Hier gabs viel Verkehr
Von Parteien und Amt.
Die Einen schauten verloren,
Die Andern zum Dienst geboren,
Lauferei, hin und her.

Dann zog ne Frau vorüber, die schob
Nen Einkaufswagen vor sich her.
Den hatte sie mit Blumen verziert,
Weil sie sich, so dachte ich,
Fürs Flaschensammeln geniert.
Da mocht ich weitere Betrachtungen nicht mehr.

Mittags, gegen 2
Mußt es auf retour
Wiederum Hannover sein.
Café Bredero, Treppenfuß,
Verging mir sogleich die Lust
Bei dem Anblick einer Hur.

Sie war schmerzhaft jung.
Mitleid warf mein Blick
In ihre Einladung,
Die ich aus der Mimik las,
Bevor sie geschäftig hinter Glas
Ging, und sie kam zurück - 

Mit ner Art von Alibi
Bürgerlichen Seins
Sagt sie, sie sei nicht von hie,
Sie sucht ne Stelle inner Kanzlei,
Ob ich wohl wüßt wo eine sei.
Von den Worten glaubt ich keins.

Als sie mich so sieht,
Grausam unbeirrt,
Staun ich doch, wie mir geschieht.
Sie sagt, dass ich ein Penner bin
Und Fick doch die Frau Mutterin!
Nach Ficken steht mir nicht der Sinn
Sagt ich darauf leicht verwirrt.

Nun geb ich ihr und mir zum Trost
Dies Brevier in ihren Schoß,
Nachdem ich diese Stadt verließ,
Die ihre schönsten Briefe
Von jeher gar nie liest.

A.R.
28.9.22


Geburtsfehler

Ich wurd am falschen Ort geboren,
Im wiederaufgestellten Westen.
Die Eltern hatten im gefallenen Osten
Ihren Kompass verloren.

Mein Vadder wollt' an nix mehr glauben,
Er hatte der Wehrmacht gedient.
Der Mutter sollt' ich lange frommen
Mit ihrem Keuschheitsspleen.

Ich mümmelte Jahrzehnte
An meiner guten Erziehung.
Ich bracht' sie einfach nicht heraus - 
Und sie mich auch.

Ich hatte zwei falsche Brüder,
Die wenigstens mal sagten,
Dass ich ihnen gar nicht ähnlich wär.
Das fest zu halten war ihnen wichtig -
Wie auch umgekehrt.

Ich bin zur falschen Zeit geboren,
Da machte Biermann längst Theater
Im andern Staat, wo's echt gefährlich war.
Wenn ich mal rebellierte,
War ich kurz mal Star, mal Narr,
In jedem Fall egal.

Ich hab zur falschen Zeit gelitten,
Da hatte ich was ich begehrte,
Was ich nicht kapierte.
Wir Zwei sind herrlich auf und ab geritten,
Trotzdem ich mich nach mehr,
In Wahrheit aber weniger
Verzehrte.

Ja, Ihr Lieben, ich war wohl gelitten,
Ich war gut umsorgt -
Und hätt' so gerne mehr von dem gekriegt,
Was einen Menschen
So gründlich verkorkst.

A.R.
12.09.22