Kapitel 1
Eine Erschießung aus Bankrott kommt nicht in Betracht. Es befindet sich nicht einmal ein Schießeisen im Sekretär. Der Sekretär besteht nicht aus massivem Holz.
Eine Pistole fanden einst die neugierigen Blicke eines Kindes, das auf den Küchentisch seiner Eltern geklettert war, um die Schränke zu durchstöbern. Das Kind zeigte den Fund seiner Mutter. Das war in den großartigen 70er Jahren des 20ten Jahrhunderts in der BRD, mit dem Zechensterben im Revier und seinem Umbau in eine Dienstleistungsgesellschaft, mit seiner Liebe zu Beton und Stahl und seinem Hass auf das, was der letzte Krieg noch stehen gelassen hatte. Gundermann hingegen, der Lieder machende Baggerfahrer aus der DDR, hatte die gefundene Waffe seinen Eltern nicht gezeigt, sondern seinen Spielkameraden, bei denen die Präsentation, wie Gundermann wusste, eine viel günstigere Wirkung hinterließ; mit der Folge allerdings, dass diese ihrerseits es ihren Eltern erzählten: „Mama, der Gundi hatte heute eine echte Knarre auf den Spielplatz mitgebracht!“ Der alte Gundermann erhielt ein paar Monate Gefängnis von der sozialistischen Republik, die Mutter ließ sich scheiden und Vater sprach kein Wort mehr mit dem Gundi. Ein liedermachender Baggerfahrer war geboren. In der BRD gab es nur einen Appell der Mutter an den Vater, doch nun fast 30 Jahre nach dem Krieg, seine Waffe aus der Zeit der Wehrmacht endlich den Behörden zu übergeben. Vater wollte darauf von der Mutter wissen, was der Kleine bitte auf dem Küchentisch zu suchen hat. Ob er seine ganz persönliche Kapitulation gegenüber den Alliierten in Gestalt eines deutschen Beamten vollzogen hat, ist nicht bekannt.
Das Schicksal will halt heraus gefordert werden, sonst bleibt es beim müden Appell.
Als Sachwalter einer reichen Witwe aus anrüchigem Milieu wurden ihm einmal zwei dekorative Waffen zugespielt von der konspirativen, polnischen Haushälterin. Die Waffen gingen zur Polizei. Die dort vorgefertigte Erklärung zur Aufgabe des Besitzes, mit der die Staatseinnahmen aufgebessert werden, wurde von ihm nicht vorab unterzeichnet. Dadurch gelangten die Waffen wieder an die Besitzerin, da sie zum Gebrauch als Schusswaffe nicht geeignet waren, wie die Polizisten wussten.
Eine Selbsterschießung aus Gründen des Bankrotts kommt wie erwähnt nicht in Betracht. Denn die Würde dessen, der seines bürgerlichen Antlitzes verlustig gegangen ist, kann dadurch nicht wieder hergestellt werden, nicht in den Augen der Gegenwärtigen, das sind die ins 21. Jahrhundert hinüber gelangten love-and-peaceler. Denen ist Gewalt noch mehr zuwider, seitdem das Gesicht ihrer Bewegung, die Petra Kelly, wohl möglich im Einverständnis mit ihrem Freund und Generalmajor Gert Bastian, der eine Waffe im Hause hatte, von dem Herrn Generalmajor deutlich vor dem Hinübergleiten in das 21. Jahrhundert weggeschossen worden war, bevor dieser selbst Hand an sich legte. Diese Tat, sie ging vielleicht noch durch als Schmerz von Welt, aber Abschied nehmen wegen ein paar fehlender Piepen, das ist überzogene Eitelkeit.
Schlußendlich ist die Spielerei mit dem Thema Waffe müßig und fallen zu lassen, weil ja eine Waffe gar nicht greifbar ist. Greifbar allerdings ist das Schmuckkästlein einer kleinen und dementen Frau, die große Stücke auf sich hält.
Besser gesagt hält sie nichts von sich, was sie sich jedoch durch die Herabwürdigung anderer Menschen schön redet. Sie berlinert herum und bezeichnet die junge Richterin, auf die ein zweites Auge zu werfen sich lohnt, in Gegenwart ihres angehenden Sachwalters, eines Kavaliers, als blöde Kuh. Anschließend kippt sie einen Kübel aus triefendem Bedauern hinterher: „Leute, die dümmer sind als ich, die habens bei mir schwer“. Gewissermaßen, um sie bei der Pöbelei angemessen zu vertreten, randaliert ihr Sachwalter in der Kruppschen Krankenanstalt, weil dort nach der Tradition des Hauses Arbeit im Akkord für Ärzte durchgeführt, aber das Förderband für seinen Schützling aus Bosheit gegen den Sachwalter, der bereits bei der Terminvereinbarung aufsässig war, absichtlich angehalten wird. Das Giften des Sachwalters gegen die Ärzte im Besonderen, aber auch im Allgemeinen, nimmt sie zum willkommenen Anlaß, den Sachwalter als über die Maßen, ja ungeheuerlich blöd zu bezeichnen. Der Sachwalter verlässt daraufhin in Begleitung seines Praktikanten, eines leidenschaftlichen Jägers, die Anstalt, ohne je in Erfahrung zu bringen, ob die Geldgier der als Stiftung getarnten Kruppschen über die Formalitäten siegte und die Patientin ohne obligatorische Unterschrift ihres Betreuers behandelt wurde.
Vor diesem Hintergrund kann nicht gesagt werden, dass die Veruntreuung und Versilberung ihres Schmuckkästleins, dessen Inhalt der Juwelier auf knapp EUR 50.000,- taxiert hat, durch den Sachwalter ohne einen rechtfertigenden Grund erfolgte: Und mit erfolgte ist der stilvolle und würdelose Konjunktiv und nicht das Imperfekt im Indikativ gemeint. Denn das Ganze ist ein Versuch über die Beendigung einer bürgerlichen Existenz. Allerdings ist es schon so, dass die Schmuckankäufer bar bezahlten, also in bar bezahlen würden.
Kapitel 2
Nun, Unentschiedenheit bekanntlich ist der Seele eigentliche Qual. Fünf Finger hat der Mensch an einer Hand, doch besser lebt sich’s digital und aufgereiht als Null und eins mit sich. Die Elster flog davon und stahl das Schmuckkästlein, darin lag Ehre, Besitz und Ansehen bei Gott. Bei Gott, es waren diese drei, vereint. Die längsten Finger langten nicht die Elster wieder einzufangen. Sogar das Steuerprogramm der deutschen Finanzverwaltung mit gleichem Namen vermochte diese Elster nicht aufzuhalten. Entgegen ihrer Natur verließ sie das Land und unterflog alle Radare, ihr Flügelschlag verfinsterte die fliegenden Kameras in der Luft. Wenn es eines Beweises noch bedurfte, dass die deutschen Grenzen nicht mehr sicher sind, so war der gefiederte Vogel der Beweis.
Die Elster hinterließ Gerüchte. Mal wurde sie über einem Containerschiff in Richtung Afrika gesichtet. Über dem Horn von Afrika hieß es habe sie den Inhalt ausgeschüttet. Die Frauen vom Stamme der Alaba, für ihre Freude an Verzierung bekannt, hätten sich die schönen Perlen umgehängt, die Ringe aber übergaben sie je zur Hälfte dem protestantischen Pfarrer und dem örtlichen Hexenmeister, auf Nummer sicher gehend. Andere wollten wissen, das schöne Gut sei herab gefallen in den Schoß eines jesidischen Mädchens, das als Sklavin gehalten wurde von einem der letzten Provinzstatthalter des Islamischen Staates auf dem Boden Syriens. Durch Bestechung sei ihr daraufhin die Flucht gelungen; mit dem Schmuckerlös habe sie dann auf dem Viehmarkt einen Ochsen und ein Stück Land in der sicheren Zone gekauft und einen Mörder gedungen, der ihren Peiniger abgeschlachtet habe. Das davon gedrehte Video sei um die Welt gegangen; wie aber das Schmuckkästlein in den Schoß des Mädchens gefallen war, da gab es keine Bilder von. Schade.
Jedenfalls lässt sich sagen: Das Schmuckkästlein unter den Fittichen der diebischen Elster hat weit mehr ausgerichtet in der Welt als im Gewahrsam des Besitzers denkbar war.
Vom Ausflug der Elster abgesehen geht alles seinen schleppenden Gang. Der bürgerliche Tod ist ein langsamer. Im Bemühen ihm entgegen zu kommen verstrickt einer sich in seinen Auffangnetzen. Es reicht nicht aus die Lizenz zur Ausübung einer bürgerlichen Profession an den Aussteller zurück zu senden und zu sagen: „Danke, das wars“, und sei es offensichtlich zu dem Zweck die Mahlzeit wieder entspannt am Ende der Tafel und nicht – wenigstens in Folge eigener Eingebildetheit – vor Kopf wie einst Damokles einnehmen zu dürfen. Denn die Bürgerlichkeit ist hochgradig alarmiert; sie ist alles, was sie sich selbst vorstellen kann ohne in Panik zu geraten, außerhalb von ihr ist es prekär und nicht auszumalen. Deshalb ist mit der Rückgabe der Lizenz noch nicht alles getan, um das langwierige Procedere ihres Entzugs zu beenden. Denn der Verzicht führt zu einer amtlichen Feststellung, dass verzichtet wurde und erst mit dieser Feststellung ist es dann auch amtlich und somit tatsächlich in der Welt beziehungsweise aus der Welt. Die Bourgeoisie denkt aber den Menschen, jedenfalls ihresgleichen, als eine zutiefst gespaltene Persönlichkeit, die mindestens mit einem Fuß im bürgerlichen Sumpf stecken bleibt. Deshalb muß gerechnet werden mit der Selbsthintergehung des Verzicht Leistenden durch Einlegung eines Rechtsmittels gegen den auf dem Verzicht beruhenden Verzichtsbescheid. Deshalb und um selbst wieder festen Grund unter ihren eigenen Füßen verspüren zu können, mindestens was den ordentlichen Ablauf des von ihr verwalteten Verfahrens betrifft, bittet die auch infolge ihrer Aufgeregtheit jugendlich wirkende Dame an der Lizenzstelle um möglichst umgehende schriftliche Erklärung, dass der eigene Wunsch nach Verzicht den Verzicht umfasst gegen den erklärten Wunsch als in Auflösung befindliches Rechtssubjekt nicht und niemals mehr vorgehen zu wollen. Da fällt dem bürgerlich Denkenden ein, was Gundermann einst bei der Betriebsversammlung zum vom Kopf auf die Füße gestellten Hegel gesagt hat: „ Ich wäre ohne weiteres von selbst darauf gekommen, so einleuchtend ist das.“ Das Bürgerliche ist ein geschlossenes System, in dem das Selbst eingeschlossen ist. Schließt das Selbst sich selbst aus, bleiben ihm nur noch ein paar Brocken zum Existieren, auch philosophisch betrachtet.
Kapitel 3
An einem deutschen Theater wird ein Stück gegeben, in einem kleinen Haus. Die Karten für den Perser, der einst Flugblätter im Iran gegen den Schah durch Teheran schmuggelte, hier Asyl fand und seinen zu Besuch weilenden Begleiter liegen bereit. Auf Drängen des vorgeglühten kleinen Iraners, der seiner Gewohnheit gemäß zwischen Bürgersteig und Straßenrand wechselnd voranschreitet, dabei mit bühnenreifer Gestik Beobachtungen über Passanten hörbar zum Besten gibt, kehren die Beiden eine Viertelstunde vor der Vorstellung noch auf ein achtel Rotwein in der Theaterklause ein. Die Bestellung zieht sich. Der Arman amüsiert sich gründlich über den Deutschen, der sich um den Einlaß sorgt. Kenntnisreich berichtet er vom letzten Zeichen, welches das dritte Läuten sei, mit dem der Einlaß ende. Bis dahin sei das Achtel geleert und habe der Deutsche ein Problem damit, so vertrage Armans Leber, die die gesunde Leber eines Dreijährigen sei, ohne weiteres auch das Glas des besorgten Deutschen. Zudem habe der Arman ein außerordentlich feines Gehör, dem das letzte Zeichen keinesfalls entginge.
Der Deutsche erlegt schließlich, ohne ein Getränk vor der Nase, großzügig seinen Anteil an der Bestellung und eilt zur Theaterkasse, welche wegen seiner bescheidenen Ausstattung mit der Garderobe zusammen fällt. Die Obristin der Garderobe und die Kartenabreißerin, die sich ihrer Aufgabe bereits entledigt sieht und dazugesellt hat, sehen den Mann schon etwas grimmig an, er ist gerade einmal zwei Minuten vor der Zeit. Einen Gong, ein letztes Zeichen, so was habe das Theater nicht. Nacheinlaß werde heute nicht gewährt, so habe die Regie sie angewiesen. Der gute Mann, soeben hat er die Billets bezahlt, will das nicht glauben und lamentiert. Über den Gang geht würdevoll der Assistent der Regie und fragt, was Sache sei. Der Mann schlägt vor den Perser, einen wahren Enthusiasten und Kenner des Theaters, in vier Minuten herbei zu schaffen und bittet den Beginn des Stücks so lang hinaus zu schieben.
Der Regieassistent besteht auf dem pünktlichen Beginn des Stücks im Namen des nicht warten könnenden Publikums und auf der Unmöglichkeit des Nacheinlasses im Namen des ungestörten Ablaufs der künstlerischen Darbietung. Der um Fassung bemühte Mann, dessen Ärger über das so deutsche Theater und den persischen Freund sich die Waage hält, denkt kleinbürgerlich an sich selbst, lässt eine Karte an der Garderobe liegen und begibt sich auf seinen Platz, nicht allzu weit vom Eingang weg.
Arman erscheint, das Stück hinter der Tür ist fünf Minuten schon im Gang, für den Arman beginnt jetzt „Draußen vor der Tür“. Er ist der Hauptdarsteller, die Damen die Statistinnen. Die bereits bezahlte Eintrittskarte wird ihm von der Garderobe überlassen mit dem Hinweis, dass ein Einlaß nicht mehr möglich sei. Die Aufsicht bedauert, jedoch weiß sie sich im Recht; zumal sie die Bewerbungsrede eines gewissen Friedrich Schiller für einen Sekretärsposten bei der kurpfälzischen Sprachgesellschaft, die sich mit der alle versöhnenden Wirkung des Theaters befasst, dem Ort der Verbrüderung, der moralischen Anstalt, und zu der der Arman eine kleine Einführung hält, nicht kennt. Den Damen ist nur darum zu tun den Worte um sich werfenden Kerl im Ton zu mäßigen. Plötzlich hält der inne, schaut fassungslos auf einen Punkt und sagt: „Nicht bewegen, gnädige Frau. An Ihrer Epaulette entlang geht eine Spinne.“
Ein spitzer Schrei folgt auf den nächsten, als der Arman die Tür aufreißt und in der ersten Reihe vor der Bühne Platz ergreift, die Garderobe hinterher. Es wird gedroht mit Hausverbot. Der Arman aber hat inzwischen seine für solche Fälle bereit gehaltene Kippa aufgesetzt, erhebt sich, macht aufstampfend einen Schritt zurück, fuchtelt mit seinem billigen Brillengestell und ruft in den Saal: „Ist es schon wieder so weit, dass ein schwuler Jude wegen seiner Hautfarbe aus dem Theater entfernt wird?“ Dann nimmt er wieder Platz. Schockstarre für einen Moment, Gemurmel, fragendes Entsetzen. Eine blitzgescheite Darstellerin lässt den Auftritt geschickt in ihren Text einfließen.
Nach dem Ende des Stücks wird der Deutsche von der Garderobe mit kalten Blicken gestraft. Der Regieassistent eilt zu dessen jüdischen Freund, entschuldigt sich und würde sich freuen ihn demnächst wieder im Theater begrüßen zu dürfen. Der Arman gesellt sich wieder zu seinem Begleiter und meint er sei in der Klause aufgehalten worden. Der Deutsche habe am falschen Ende sparen wollen: Das Geld habe für zwei Achtel nicht gereicht, er habe aber die Kellnerin überzeugen können, dass der Deutsche die Zeche heute noch begleichen werde nebst einem angemessenen Trinkgeld.
Die Bourgeoisie hat Schwachstellen im System: ihr andauernd schlechtes Gewissen und damit einhergehend ihr Spleen für klug operierende Außenseiter.
(Fortsetzung folgt)
A.R.